Wie es einmal einem Paznauner Jäger auf der Gemseniagd ergangen, das sei zu Nutz und Frommen aller Weidmänner kurz erzählt. Eines Herbsttages pirschte der Jäger auf Gemsen,
hatte aber kein Glück, so daß er schon auf dem Heimweg war, als er in den Felsen eine Gemse sichtete, die trotz seines Näherkommens ruhig stehenblieb. Vorsichtig schlich der Jäger heran
und bemerkte nun, daß das Tier mit einer Kette an den Felsen angeschmiedet war und daß Tränen aus den Augen des gefangenen Wildes tropften. Mitleidig löste der Jäger die Gemse von der
Kette, worauf das Tier blitzschnell flüchtete.
Im nächsten Frühjahr unternahm der Jäger eine Wallfahrt nach Maria Einsiedeln in die nahe Schweiz und kehrte nach ermüdendem
Tagesmarsch in einem Gasthaus ein. Die Wirtin, eine schöne Frau, begrüßte ihn mit besonderer Herzlichkeit und lud ih ein, sich's recht gut schmecken zu lassen. Der Jäger ließ sich das
nicht zweimal sagen und griff tüchtig zu. Als er zahlen wollte, bedeutete ihm die Wirtin, er könne die Kleinigkeit ja auf dem Rückweg begleichen und möge ja gewiß wieder
zukehren.
Als der Wallfahrer dann wiederkam, wurde er neuerdings mit großer Gastlichkeit aufgenommen und bewirtet. Wie es zum Zahlen kam, frug die Wirtin den Jäger, ob er sie denn
nicht kenne. Auf die verwunderte Antwort, daß er sidi gar nicht erinnern könne, gab sich die schöne Frau als jene Gemse zu erkennen, die der gutherzige Weidmann im vergangenen Herbst aus
den Felsen befreit hatte. Sie sei zur Strafe für eine schwere Sünde in die Gemse verwandelt und hoch in die Berge verbannt worden. Hätte der Jäger auf das Tier geschossen, so wäre sie der
ewigen Verdammnis verfallen, so aber habe sein gutes Herz sie gerettet und dem menschlichen Dasein wiedergegeben.
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