Der Sarner und der Rafensteiner Drache

Ein Sarner Bote, der einstmals, als der Weg von Bozen ins Sarntal noch über den Berg führte, beim Rafensteiner Schloß rastete, erblickte eine wunderschöne Frau, die ihn freundlich grüßte und zu ihm sprach: "Du kannst dein und mein Glück machen, wenn du morgen um Mitternacht wiederkommst. Ich werde in Gestalt eines Drachen erscheinen; wenn du dich dann nicht fürchtest, sondern mich dreimal umarmst, so bin ich erlöst, und das Schloß samt allen seinen Schätzen ist dein!"

Dem Sarner ging die Erscheinung nicht aus dem Sinn. Er klopfte im Bozner Franziskanerkloster an und bat einen bekannten Priester um Rat. Der Ordensmann trug dem Boten auf, sich zur bestimmten Stunde in Rafenstein einzufinden und das Schloßfräulein zu erlösen. Zum Schutz gegen böse Geister gab der Pater dem Burschen ein geweihtes Kreuzlein mit.

Richtig stieg der Sarner am nächsten Abend zum Rafensteiner Schloß auf und erwartete betend die Mitternacht. Kaum hatte die Uhr des Stadtturms zwölf geschlagen, erscholl im Schlosse ein schreckliches Getöse, ein furchtbarer Drache fuhr feuersprühend daher. Wohl packte den Sarner die Angst, er ermannte sich aber, nahm das Kreuzlein in die Hand und umarmte das Untier zweimal.

Vor der dritten Liebkosung graute dem armen Kerl aber derart, daß er sich abwandte und einen lauten Schrei ausstieß. Im Augenblick verschwand der Drache, aus den Ruinen des Schlosses ertönte klagendes jammern und ein klingendes Geräusch, als ob unzählige Gold- und Silbermünzen in die Tiefe rollten.

Der Sarner, der sein Glück verscherzt hatte, schlich sich tiefbekümmert heim und ward seines Lebens nie mehr recht froh.

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