Die Bußfahrt der Schildkröte

Eine Unterinntalerin, die von ihrem Liebsten verlassen worden war, hatte in einer unseligen Stunde ihr neugeborenes Kind erstickt. Die Untat blieb verborgen, und nach einigen Jahren wurden die Liebenden doch ein Paar. Als die Ehe der jungen Leute dann mit einem Knäblein gesegnet wurde, erkannte die Mutter in den Zügen ihres Kindes das Abbild des ermordeten Erstgeborenen. Von schweren Gewissensbissen gepeinigt, vertraute sie sich ihrem Mann an, der bis dahin keine Ahnung von dem Kindesmord, an dem er sich nun mitschuldig fühlte, gehabt hatte.

Die Ehegatten wollten ihr Verbrechen sühnen und pilgerten auf den Rat eines Klausners nach Rom, wo sie dem Papst ihr Herz öffneten. Der Heilige Vater spradi die Ehegatten von ihrer Schuld los, legte der Frau aber eine schwere Buße auf. In eine Schildkröte verwandelt, mußte sie sieben Jahre lang von Rom aus in die Heimat kriechen und auf ihrem Wege zahlreiche Wallfahrtskirchlein besuchen. Wie oft glitt das arme, plumpe Tier auf steilen Felswegen ab und stürzte in tiefe Abgründe; wiederholt wurde es von der Schwelle eines Kirchleins gestoßen und mußte wehrlos und stumm alle Unbilden der harten Bußfahrt erdulden.

Im siebenten Jahr ihrer Wanderung war die Schildkröte bis auf den Brenner gelangt und begegnete einem Weinfuhrmann, der im Übermut seinen schwerbeladenen Wagen über die Schildkröte fahren ließ, so daß das Tierchen fast zerquetscht wurde. Dann schleuderte der rohe Mensch die Schildkröte mit seiner Peitsche in eine Dornenhecke, so daß das Tier beinahe verblutet wäre.

tirolkarteklein