Im obersten Gschnitztal hütete eines Tages ein Hirtenknabe Ziegen und stieg dabei in den Felsen herum, um bunte Steinchen zu suchen. Auf einmal bemerkte er den Eingang
einer Höhle, trat neugierig ein und kam aus dunklem Gang in eine hellerleuchtete, hohe Kirche, in der zahlreiche Leute in den Stühlen schliefen. Der Hirtenknabe schlich auf den
Zehenspitzen zum Altar und holte sich ein schönes silbernes Kruzifix zum Andenken. Als der Bub dann die Kirche verließ, erwachte in der letzten Bank ein Mann mit langem, weißem Bart und
fragte den Knaben, wie groß das Bäumchen draußen vor dem Eingang der Höhle schon sei. Der Hirte beschrieb dem Alten die Größe des Baumes. Da seufzte der Greis auf und sank nach dem
Ausruf: Da muß ich noch hundert Jahre warten!" wieder in tiefen Schlaf.
Der Hirtenbub eilte nun durch die Höhle wieder ins Freie und lief mit dem silbernen Kruzifix heim, um
dem Vater sein seltsames Abenteuer zu erzählen. Da erschrak der Vater bis ins Herz hinein, denn er wußte: wer aus der Geisterkirche einen Gegenstand mitnimmt, muß binnen drei Tagen
sterben. Und richtig erfüllte sich dies Wort auch an seinem Sohn; der Hirtenbub wurde am dritten Morgen nach seinem Erlebnis tot im Bette aufgefunden.
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